Angewandte Linguistinnen und Linguisten vor Gericht!

Ein Projekt aus dem Tätigkeitsfeld Professionalisieren

In unserem #galwue21-Blogprojekt zeigen wir Ihnen die bunte Vielfalt der Angewandten Linguistik! Im letzten Blogbeitrag haben wir Ihnen das Tätigkeitsfeld „Professionalisieren“ vorgestellt. Heute zeigen wir Ihnen ein angewandt-linguistisches Projekt aus diesem Tätigkeitsfeld. Viel Spaß!

Dolmetschen wird zunehmend zum Alltag an Schweizer Gerichten

Wenn nicht alle Beteiligten eines Gerichtsverfahrens die Gerichtssprache beherrschen, kommen Dolmetscher und Dolmetscherinnen zum Einsatz. Sie helfen bei der Kommunikation vor Gericht. Das Dolmetschen an Gerichten erweist sich aus unterschiedlichen Gründen als eine besonders komplexe und anspruchsvolle Tätigkeit:

  • Rollenklarheit: Die Dolmetschenden fungieren als Vermittler zwischen den Behörden und der angeklagten Partei in einer sehr heiklen Situation und müssen deswegen emotionslos bleiben.
  • Sinngenaue Verdolmetschung: Von den Dolmetschern und Dolmetscherinnen wird eine schnelle, präzise und fachlich exakte Verdolmetschung verlangt.
  • Spezifisches Setting: Die Kontaktsituationen sind formell und erfordern eine direkte und sachliche Verdolmetschung.

Was muss man können, um am Gericht zu verdolmetschen?

Ausgezeichnete Sprachkenntnisse sowohl der Muttersprache als auch einer weiteren Fremdsprache sowie das sichere Beherrschen und Anwenden verschiedener Dolmetschtechniken sind notwendig, um als Dolmetscherin oder Dolmetscher tätig zu sein. Diese sind aber oft nicht ausreichend, um die Verdolmetschungstätigkeit auch vor Gericht professionell ausüben zu können!

Dolmetscherinnen und Dolmetscher müssen darüber hinaus auch juristische Fachkenntnisse haben und die Sprache und insbesondere die Terminologie des Rechtswesens sicher beherrschen. Dazu müssen sie zum Beispiel wissen:

  • Wer kann wen warum anklagen – und welche Strafmaßnahmen sind zu erwarten?
  • Welche Ausdrücke sind spezifisch für die Rechtssprache und was bedeuten sie? Was ist beispielsweise der Unterschied zwischen Appellation und Beschwerde?
  • Wie kann ich juristische Fachausdrücke in die Zielsprache übertragen?
  • Und vieles mehr!

Wie kann die Angewandte Linguistik helfen?

Um diese und andere Wissenslücken zu füllen, entwickelte eine Fachgruppe bestehend aus den Vertretern der Gerichte, der Staatsanwaltschaften, der Polizei und des Migrationsamt des Kantons Zürich zusammen mit dem Institut für Übersetzen und Dolmetschen (IUED) der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZAHW) einen zweieinhalbtägigen Kurs für Behörden- und Gerichtsdolmetscher bzw. -dolmetscherinnen.

Dieser „Basiskurs für Behörden und Gerichtsdolmetscher“ vermittelt Grundwissen zur Berufsethik und zur Rolle der Dolmetschenden vor Gericht, verschiedene Dolmetschtechniken – zum Beispiel das Konsekutiv- oder Flüsterdolmetschen, aber auch das Stegreifübersetzen – und natürlich auch Fachwissen aus dem Rechtsbereich.

Geübt werden insbesondere Abläufe bei gerichtlichen Verfahren, Recherche- und Arbeitstechniken, Fachterminologie sowie Strategien der emotionalen Abgrenzung. Es unterrichten erfahrene Experten und Expertinnen aus den Bereichen Justiz, Polizei, Asyl und Migration sowie Dolmetschprofis der Angewandten Linguistik. Der Kurs basiert auf den Erkenntnissen angewandt-linguistischer Forschung, zum Beispiel auf dem Einführungswerk zum Gerichtsdolmetschen von Frau Prof. Dr. Christiane Driesen.

Im Kurs lernen Dolmetscherinnen und Dolmetscher lernen also, den Anforderungen des Gerichtsdolmetschens zu begegnen. Angewandte Linguistinnen und Linguisten unterstützen sie in diesem Professionalisierungsprozess. Übrigens: Auch in der Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL) e. V. beschäftigt sich eine Sektion mit der Professionalisierung der Dolmetschtätigkeit: die Sektion Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft.

Also darf nicht jede/r als Dolmetscherin oder Dolmetscher vor Gericht auftreten?

Das kommt darauf an! Im Kanton Zürich zum Beispiel ist das nicht (mehr) der Fall. Dort wurde 2004 eine Verordnung über das Dolmetscher- und Übersetzungswesen beschlossen. Diese Verordnung regelt „sämtliche Aufträge zur mündlichen Übersetzung (Dolmetschen) und schriftlichen Übersetzung, die von kantonalen Gerichts- und Verwaltungsbehörden erteilt werden“ (§ 1 DolmV). Sie beinhaltet vor allem gesetzlich festgelegte Mindestqualitätsstandards für die eingesetzten Dolmetscherinnen und Dolmetscher.

Und wer überprüft, ob die Dolmetscherinnen und Dolmetscher diese Mindestqualitätsstandards erfüllen? Na Angewandte Linguistinnen und Linguisten! Das erfolgreiche Bestehen des eben beschriebenen Basiskurses ist Voraussetzung, um im Kanton Zürich als Dolmetscherin oder Dolmetscher vor Gericht tätig zu werden. Im Zeitraum 2004 bis 2011 nahmen 928 Personen an den 51 durchgeführten Kursen und den dazugehörigen Prüfungen teil.

Angewandte Linguistinnen und Linguisten entwickelten auch ein Merkblatt mit, das als eine Orientierung bzw. Unterstützung für die anspruchsvolle Tätigkeit der Dolmetschenden bei Behörden und Gerichten dient. Dieser „Leitfaden für Dolmetscherinnen und Dolmetscher“ definiert die Voraussetzungen für die Aufnahme ins Züricher Dolmetscherverzeichnis über drei Kriterien: persönliche Voraussetzungen wie zum Beispiel die juristische Handlungsfähigkeit oder auch Pünktlichkeit, ethische und rechtliche Voraussetzungen wie zum Beispiel Neutralität oder das Einhalten der Schweigepflicht sowie fachliche und sprachliche Voraussetzungen wie zum Beispiel juristische Fachkenntnisse und das sichere Beherrschen von Dolmetschtechniken.

Nicht nur Hilfe für Dolmetschende, sondern auch für Richterinnen und Richter       

Die Dolmetschprofis der ZHAW halfen auch bei der Erstellung eines Merkblatts für Richterinnen und Richter: „Dolmetscheinsätze bei Behörden und Gerichten – Tipps und Tricks für eine (noch) erfolgreiche(re) Zusammenarbeit mit Dolmetscher/innen“.

Angewandt-linguistische Forschung konnte zeigen, dass das Dolmetschen eine hochkomplexe kognitive Tätigkeit ist, die in einen vielschichten Kommunikationsprozess eingebettet ist. Das Merkblatt hilft den Gerichten dabei, solche situativen Faktoren bei der Auswahl der Dolmetscherinnen und Dolmetscher und der Kooperation mit ihnen zu berücksichtigen.

Das Merkblatt nennt verschiedene „Erfolgsfaktoren“, die einen professionellen und zielführenden Ablauf des Dolmetscheinsatzes gewährleisten sollen:

Professionalisierung des Gerichtsdolmetschens

Beide Merkblätter – das für Dolmetscherinnen und Dolmetscher, aber auch das für die Gerichtsangehörigen – verfolgen also dasselbe Ziel: den professionellen Ablauf der Kommunikationsabläufe in einem äußerst sensiblen Bereich, nämlich der Kommunikation vor Gericht.

Die Zusammenarbeit der Züricher Gerichte mit Angewandten Linguistinnen und Linguisten als Experten für die angemessen Übersetzung und Verdolmetschung und die Umsetzung dieser Zusammenarbeit in Qualitätsstandards ist ein Beispiel für eine erfolgreiche Professionalisierungsmaßnahme im Bereich Sprache und Kommunikation.

Die Autorinnen:

Laura Wendinger – studiert Germanistik und Geographie auf Lehramt. Sie interessiert sich also nicht nur für Gesteinsarten, sondern auch für die Angewandte Linguistik!

Rusana Temenderova – Teilnehmerin des Seminars „Angewandte Linguistik“ im Sommersemester 2021.

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