Ein Projekt aus dem Tätigkeitsfeld Dokumentieren
In unserem #galwue21-Blogprojekt zeigen wir Ihnen die bunte Vielfalt der Angewandten Linguistik! Im letzten Blogbeitrag haben wir Ihnen das Tätigkeitsfeld „Dokumentieren“ vorgestellt. Heute zeigen wir Ihnen ein angewandt-linguistisches Projekt aus diesem Tätigkeitsfeld. Viel Spaß!
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Von Rechtschreibung, Zeichensetzung und Argumentationsaufbau – Sprachkompetenzen in der Schule
Angesichts scharfer globaler Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt werden Sprachkompetenzen als Schlüsselkompetenzen in der Ausbildung und im Beruf wahrgenommen. Sie sind daher zentraler Bestandteil der schulischen Ausbildung: In der Schule lernen Kinder und Jugendliche, wie man korrekt schreibt, wie man sich situationsangemessen ausdrückt und wie man Texte so aufbaut, dass sie vom Leser oder der Leserin leicht verstanden werden können.
Lehrkräfte müssen dazu typische Problemfelder beim Erwerb und Ausbau von Sprachkompetenzen kennen und gleichzeitig den Lernfortschritt ihrer Schülerinnen und Schüler beurteilen können. Nur so ist eine optimale Förderung der Sprachkompetenzen der Schülerinnen und Schüler möglich.
Wie kann Angewandte Linguistik bei diesem Problem helfen?
Angewandte Linguistinnen und Linguisten sehen hier nicht nur ein gesellschaftliches, sondern auch ein sprachwissenschaftliches „Problem“: Die Sprachkompetenz von Schülerinnen und Schülern wird meistens anhand schriftlicher Texte bewertet – Schülerinnen und Schüler müssen Aufsätze schreiben, bei denen sie Probleme erörtern, Literatur beschreiben, ihre Meinung darlegen usw.
Was aber sind „gute“ und was sind „schlechte“ Schulaufsätze? Was sind „typische“ Fehler von Schülerinnen und Schülern? Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn man sich ganz, ganz viele Schulaufsätze anschaut, nicht nur die einer Klasse – denn das ist nicht repräsentativ. Das ist der Knackpunkt: Es gibt bislang keine frei zugängliche Textsammlung, ein sog. Korpus, in dem eine repräsentative Anzahl von Schülertexten enthalten ist.
Jetzt tritt die Angewandte Linguistik in Aktion!
Im Jahr 2011 bearbeiteten 1511 Oberschülerinnen und Oberschülern aus Südtirol, Nordtirol und Thüringen diese Erörterungsaufgabe:
Die Angewandten Linguistinnen und Linguisten aus dem Projekt KoKo (Bildungssprache im Vergleich: korpusunterstützte Analyse der Sprachkompetenz bei Lernenden im deutschen Sprachraum) rund um Andrea Abel haben die Aufsätze gesammelt und weiter aufbereitet. Dabei wurden grammatische Fehler, lexikalische Auffälligkeiten, Orthographiefehler und textstrukturelle Eigenheiten manuell annotiert, also markiert und mit Anmerkungen versehen. Außerdem wurden automatisch Wortarten, die Komplexität von Sätzen und einiges mehr bestimmt.
Zusätzlich stehen für alle Texte personenbezogene Metadaten wie etwa Erstsprache, Geschlecht, Schultyp, Herkunftsregion und Deutschnote zur Verfügung. Sie ermöglichen eine detailliertere Interpretation der Ergebnisse der Textanalysen.
So entstand ein umfassend sprachwissenschaftlich annotiertes Lernerkorpus deutscher Schülertexte, nämlich das KoKo-Korpus.
Linguistische Nutzung des KoKo-Korpus
Das Koko-Korpus ist für Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler interessant, weil es empirisch begründete und detaillierte Aussagen über die Schreibkompetenzen von Schülerinnen und Schülern erlaubt. So kann es Antworten auf die Frage bieten, was eigentlich „typisch“ für Schülertexte ist: Was sind „typische“ Formulierungen, was sind „typische“ Fehler in Schüleraufsätzen?
Dazu wurden verschiedene sprachliche Ebenen betrachtet. Eine Analyse der Orthographie zeigt beispielsweise, dass vielen Schülerinnen und Schülern die dass– vs. das-Schreibung schwer fällt, aber auch die Groß- und Kleinschreibung, die Getrennt- und Zusammenschreibung und die Kommasetzung. Als Ursache machen die Linguistinnen und Linguisten vor allem fehlendes Grammatikwissen aus: Wer Haupt- und Nebensatz nicht richtig unterscheiden und die Satzfunktion nicht erkennen kann, dem fällt beispielsweise auch die Unterscheidung zwischen dass– und das-Schreibung und die korrekte Kommasetzung schwer.
Angewandte Linguistinnen und Linguisten, die im Bereich Lehren tätig sind (+ Link zum Blog) können basierend auf solchen Analyseergebnissen spezifische Unterrichtsmaterialien und -empfehlungen erstellen. Die Ergebnisse zeigen dabei, dass implizites Sprach- und Grammatikwissen oft nicht ausreicht, sondern explizites Sprach- und Grammatikwissen notwendig ist. Diese Erkenntnis lässt sich unmittelbar auf die Auswahl des zu vermittelnden Lernstoffes seitens der Lehrkräfte übertragen: Es braucht mehr Sprachwissenschaft in der Schule! 🙂
Das KoKo-Korpus als Lösung eines Real-World-Problems
Das KoKo-Korpus kann also langfristig auch für Nicht-Linguistinnen und Nicht-Linguisten eine große Hilfe sein: Lehrkräfte können die Texte, die ihre Schülerinnen und Schüler produzieren, mit denen vergleichen, die im KoKo-Korpus enthalten sind – oder mit Ergebnissen der Auswertung des KoKo-Korpus. Das erlaubt eine wesentlich präzisere Einschätzung des Leistungsniveaus des einzelnen Schülers bzw. der einzelnen Schülerin. Und es erlaubt Lehrkräften auch eine Unterrichtsvorbereitung, die präventiv auf typische Fehler und Probleme eingeht. Dazu wird das KoKo-Korpus laufend verbessert, erweitert und aktualisiert – und natürlich aus verschiedenen Perspektiven sprachwissenschaftlich ausgewertet. Neugierig? Hier finden Sie weitere Ergebnisse des Projekts!
Die Autorinnen:
Daria Wojtkowiak – studiert im Masterstudiengang Germanistik als Fremdsprachenphilologie und hat sich dabei noch mehr in deutsche Sprache verliebt. Immer häufiger landen deshalb auch unbewusst deutsche Wörter in ihren polnischen Gesprächen.
Di Sun – Bachelor-Studentin der Germanistik und Wirtschaftswissenschaft, die viel Spaß an der Sprachwissenschaft hat. Vorher hatte sie ein bisschen Angst davor, keine passende Arbeit zu finden, doch dann traf sie auf Angewandte Linguistik. Jetzt fühlt sie sich viel sicherer.